Wer war Toni Sender?

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Über einen langen Zeitraum hinweg war sie die bedeutendste Politikerin, die Hessen hervorgebracht hat, und dazu noch war sie eine der wichtigsten Sozialdemokratinnen überhaupt. Gleichwohl ist das Interesse der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit und speziell das der hiesigen Arbeitergeschichtsschreibung an ihrem faszinierenden politischen Lebensweg erst etliche Jahre nach ihrem Tod geweckt worden. Als früher Hinweisgeber fungierte ein 1972 von einem US-Geschichtsprofessor veröffentlichter Aufsatz zu ihrem im Archiv der State Historical Society of Wisconsin aufbewahrten Restnachlass. Als dann 1981 – über 40 Jahre nach deren amerikanischer Erstveröffentlichung – ihre Lebenserinnerungen endlich auch in Deutschland ediert wurden, sahen sich mehrere historiographische und politologische Fachleute angespornt, Toni Sender nunmehr die ihr gebührende wissenschaftspublizistische Reverenz zu erweisen.
Unermüdlich ist sie bis ins hohe Alter für den demokratischen Sozialismus, folglich für Freiheit und soziale Gerechtigkeit eingetreten, für Völkerverständigung und Friedenssicherung, für ein vereintes Europa, eine starke Gewerkschaftsbewegung und für die Gleichstellung von Mann und Frau. Gleichermaßen konsequent sind von ihr Hitlerfaschismus und Stalinismus sowie jedwede Form von Rassismus und Unterdrückung bekämpft worden. Genauso entschieden hat sie sich für den Wiederaufbau des im Zweiten Weltkrieg zerstörten Europas und die möglichst zügige Rückkehr Deutschlands in die Gemeinschaft der freien Staaten eingesetzt wie auch insbesondere für die Begründung einer fortdauernden deutsch-amerikanischen Freundschaft.
Am 29. November 1888 wurde Toni – geschrieben häufig auch Tony – Sender im heutigen Wiesbadener Vorort Biebrich am Rhein in einem orthodox-jüdischen Elternhaus geboren. Nach dem Besuch der dortigen Höheren Töchterschule sowie einer Frankfurter Handelsschule arbeitete sie in der Mainmetropole seit 1904 als Bürokraft in einer großen Immobilienfirma. 1906 dem winzig kleinen Zentralverein der Bureauangestellten Deutschlands beigetreten, einer der vielen Vorläuferorganisationen der heutigen Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, stieß sie alsbald auch zur SPD. 1910 ging sie für eine international agierende Frankfurter Metallhandelsfirma als Fremdsprachensekretärin nach Paris. Nach kurzer Zeit trat sie zugleich als Funktionärin der Sozialistischen Partei Frankreichs hervor, die sie in den 1920er-Jahren dann sogar zu ihrem Ehrenmitglied ernannte. Auch in unserem Nachbarland machte sie sich nicht zuletzt für eine aktive europäische Friedenspolitik und die Einführung des Frauenwahlrechts stark. Der Kriegsausbruch 1914 nötigte sie schließlich zur Rückkehr nach Deutschland.
Hier arbeitete sie wiederum als Bürokraft bzw. als Büroleiterin in der Frankfurter Zentrale jener Metallfirma. Daneben engagierte sie sich in der sich zusehends dynamisierenden Antikriegsbewegung. Während der Einberufung des gleichermaßen von dort aus operierenden SPD-Bezirkssekretärs für Hessen-Nassau Robert Dißmann zum Militär oblag ihr die Führung der sozialdemokratischen Kriegsopposition in Südwestdeutschland. 1917 gehörten beide zu den Gründern der linksoppositionellen Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD). Seit der Novemberrevolution im Jahr darauf, in deren Folge in Deutschland das aktive und passive Wahlrecht für Frauen durchgesetzt wurde, fungierte Toni Sender als Generalsekretärin der Exekutive des Frankfurter Arbeiterrats. Wie ihr 1919 zu einem der damals noch drei Vorsitzenden des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes (DMV) gewählter Lebensgefährte Dißmann begeisterte sie fortan fast im ganzen Bereich des heutigen Hessens und in Baden durch ihre mitreißenden Agitationsreden.
Ebenfalls 1919 wurde sie nicht nur Redaktionsleiterin des „Volksrecht“, der neu begründeten Tageszeitung der südwestdeutschen USPD, sondern außerdem in die Frankfurter Stadtverordnetenversammlung gewählt, der sie dann bis 1924 angehörte. Anfang 1920 trat sie zudem in die Redaktion der „Betriebsräte-Zeitschrift“ des DMV ein, für die sie bis 1933 über 400 Artikel verfasste. Während jener Jahre nahm sie an fast allen wichtigen Kongressen des DMV und des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes teil, desgleichen an den Parteitagen der SPD sowie an vielen Zusammenkünften von Organisationen der internationalen Arbeiterbewegung.
Als Spitzenkandidatin der USPD, in deren Programmkommission sowie Beirat bzw. Parteirat sie zeitweilig mitwirkte, war sie 1920 im Wahlkreis 21 Hessen-Nassau in den Deutschen Reichstag eingezogen. Nachdem sich die nichtkommunistische Rest-USPD im Herbst 1922 wieder der SPD angeschlossen hatte, nahm Toni Sender ihre Mandate für diese wahr. Dem zentralen Parteiausschuss der SPD gehörte sie seit 1922 an, ihrer Programmkommission seit demselben Jahr bis 1924 und ihrer Wehrkommission seit 1928.
Von 1924 bis 1933 vertrat sie den Reichstagswahlkreis 28 Dresden-Bautzen. Bis zum Ende der Weimarer Republik war sie Mitglied der Reichstagsausschüsse für Wirtschaft und Außenpolitik. Nicht nur in Sachsen und Berlin, in Belgien, Frankreich und den USA trat sie seinerzeit oft als temperamentvolle Rednerin auf, sondern nach wie vor auch in ihrer südhessischen Heimat. 1927 wurde sie in den politischen Beirat der Deutschen Liga für Menschenrechte gewählt. Im folgenden Jahr ist ihr dann noch die Redaktionsleitung der SPD-Illustrierten „Frauenwelt“ übertragen worden, und in „Die Genossin“, dem Informationsorgan für die Funktionärinnen der Partei, hat sie ebenfalls zahlreiche Beiträge publiziert.
Angesichts der immer bedrohlicher werdenden NS-Bewegung, vor der sie schon früh vehement gewarnt hatte, plädierte die couragierte und außerordentlich sachkompetente Parteilinke für die Ausrufung des Generalstreiks. Die Kommunisten mit ihren heuchlerischen Einheitsfront-Appellen stießen dagegen auf ihre schroffe Ablehnung. Nachdem sie mehrfach Ziel heftiger, dezidiert antijüdisch ausgerichteter Attacken durch Faschisten und Deutschnationale geworden war und diese schließlich sogar in offenen Morddrohungen gipfelten, ergriff sie am 5. März 1933, dem Tag der letzten Reichstagswahl vor der vollständigen Etablierung der NS-Diktatur, Hals über Kopf die Flucht.
Zunächst beteiligte sie sich von der Tschechoslowakei aus an der Organisierung eines ersten, provisorischen Nachrichtendienstes der SPD nach Sachsen. Seit dem Sommer 1933 leistete sie, nun in Antwerpen bei der sozialistischen „Volksgazet“ als außenpolitische Leitartiklerin beschäftigt, zusammen mit gleichfalls nach Belgien geflüchteten Aktivisten der Partei sowie der Republikschutzorganisation Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, des Weiteren mit belgischen Eisenbahnern und Binnenschiffern antinazistische Propagandaarbeit in Richtung Hitler-Deutschland. Mit den Exilstrukturen verschiedener linkssozialistischer Widerstandsorganisationen stand Toni Sender ebenfalls konspirativ in Verbindung.
Ende 1935 emigrierte die im Vorjahr vom Deutschen Reich Ausgebürgerte in die USA, wohin sie vordem schon mehrere Vortragsreisen unternommen hatte. Ihren Lebensunterhalt bestritt sie hier zunächst als Auslandskorrespondentin einer Pariser sowie einer Brüsseler Zeitung. Unentwegt klärte sie auch in ihrer Freizeit in Wort und Schrift über die Terrorherrschaft in ihrem Heimatland auf und ebenso über den dortigen antinazistischen Widerstand. Ende 1936 gehörte sie – wie z. B. Willy Brandt, Herbert Wehner, Willi Münzenberg, Ernst Bloch, Heinrich und Klaus Mann – zu den Unterzeichnern des Pariser Aufrufs an das deutsche Volk „Bildet die Deutsche Volksfront! Für Frieden, Freiheit und Brot!“. Kaum zurückgekehrt von einer ausgedehnten Europa-Reise, während der sie sich u. a. über die Lage im Spanischen Bürgerkrieg sowie über die Volksfront-Regierung in Frankreich informiert hatte, schloss Toni Sender sich im Herbst 1937 der American Labour Party an. Nach dem Novemberpogrom von 1938 warb sie in den USA für die Übernahme von Bürgschaften, um verfolgten deutschen Juden die Einreise zu ermöglichen. 1939 erschien in New York ihre „Autobiography of a German Rebel“, und sie reiste für geraume Zeit abermals nach Europa. Spätestens der in jenem Jahr abgeschlossene Hitler-Stalin-Pakt desillusionierte ein für alle Mal nicht nur sie, sondern all jene NS-Gegner, welche die antinazistische Volksfront-Idee temporär unterstützt hatten.
1940/41 wurden von ihr gewerkschaftliche Einführungskurse für soeben aus Deutschland bzw. Österreich in den USA eingetroffene Flüchtlinge organisiert. Zu jener Zeit formierten sich dort ihr politisch nahe stehende frühere Funktionäre der deutschen und europäischen Arbeiterbewegung zur Toni-Sender-Group. Ferner trat sie dem gleichermaßen antinazistisch wie antikommunistisch ausgerichteten German-American Congress for Democracy bei, als dessen Vizepräsidentin sie sogar fungierte. Auch der Aufruf „Für das freie Deutschland von morgen“, die programmatischen Richtlinien der Association of Free Germans vom Herbst 1942, trug selbstverständlich die Unterschrift ihres Vorstandsmitglieds. Im selben Jahr ist der European Labor Research ins Leben gerufen worden, für den Toni Sender als Direktorin fungierte. Zusammen mit ihrem nur kleinen Team hat sie damals frappierend zahlreiche Berichte und Memoranden über die Lage der Arbeiterschaft und den antinazistischen Widerstand in Nazi-Deutschland und den von diesem okkupierten europäischen Ländern erarbeitet, bis der US-Geheimdienst Office of Strategic Services die finanzielle Förderung dieser Arbeit einstellte. Ihr Ökonomiestudium an der New Yorker New School for Social Research, mit dem sie seit Oktober 1943 ihre einstigen diesbezüglichen Berliner Studien hatte fortsetzen wollen, musste sie nach kurzer Zeit wieder abbrechen.
Seit Anfang 1944 arbeitete die im Jahr zuvor von den USA Eingebürgerte nämlich in Washington als Wirtschaftssachverständige in der Zentraleuropaabteilung der United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA). Diese erste Organisation der Vereinten Nationen widmete sich primär der Organisierung von Hilfsmaßnahmen für die Bevölkerung in den vom Faschismus befreiten Regionen bzw. den vormaligen Nichtfeindstaaten Europas. Seit Ende 1944 wirkte Toni Sender mit u. a. an der Vorbereitung bzw. Koordinierung von Unterstützungsleistungen sowie Rückführungsmaßnahmen für die zahllosen Displaced Persons, d. h. vor allem für die von den Nazis verschleppten Zwangsarbeitskräfte und die Überlebenden des so abscheulichen KZ-Systems und Völkermordprogramms des „Dritten Reichs“. Auch für die UNRRA erarbeitete sie etliche Denkschriften und Berichte, bis sie Ende 1946 ihre Arbeit dort einstellen musste.
Zu den während der Kriegsjahre von ihr bzw. unter ihrer Federführung erstellten Expertisen gehörten z. B. eine umfangreiche Zusammenstellung von für die künftige demokratische Reorganisationsarbeit in Frage kommenden früheren Führungspersonen der deutschen Arbeiterbewegung und eine Abhandlung über deren Organisationen im Exil. Eindringlich hatte sie immerzu die endgültige militärische Niederringung Hitler-Deutschlands sowie dessen vollständige Entmilitarisierung gefordert, die Einrichtung eines Kriegsverbrechertribunals genauso wie die Rückgabe aller geraubten Industriegüter usw. Andererseits ist von ihr jedweder Kollektivschuldvorwurf an das deutsche Volk scharf zurückgewiesen worden, und nicht minder entschieden trat sie dafür ein, dass diesem durch die westlichen Siegermächte die Chance zu einer nachhaltigen demokratischen Entwicklung eingeräumt wurde. Dass hierfür ein guter staatsbürgerlicher Unterricht an den Schulen sowie eine entsprechend ausgeprägte Erwachsenenbildung unabdingbar sein würden, hatte Toni Sender bereits im Ausklang ihrer Autobiographie kategorisch festgestellt.
Wie so viele Hitler-Flüchtlinge beschäftigte sie sich seit der Befreiung ihres Herkunftslandes von dessen Gewaltherrschaft im Jahre 1945 mit der Frage, ob sie jetzt nicht dorthin zurückkehren sollte, um sich unmittelbar vor Ort an den vielfältigen drängenden politischen und sonstigen Reorganisationsarbeiten zu beteiligen. Aber ihre Bewerbung bei der US-Militärregierung in Deutschland im Herbst 1946 wurde abschlägig beschieden. Seit Anfang 1947 konnte sie sich jedoch als Assistentin der Repräsentanten der American Federation of Labor (AFL) beim Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen auf internationaler Ebene auf verschiedenerlei Weise im genannten Sinne verdient machen. Damals und auch noch in den folgenden Jahren unterstützte sie zudem eine ganze Reihe in Deutschland bittere Not leidender Genossinnen und Genossen mit von ihr persönlich wie auch von anderen finanzierten Paketsendungen mit Nahrungs- und Bekleidungsgütern, so etwa den einstmaligen Reichstagspräsidenten Paul Löbe und den damaligen SPD-Vorsitzenden Dr. Kurt Schumacher.
Ende 1947 konnte Toni Sender im Anschluss an eine Tagung der UN-Menschenrechtskommission in Genf erstmals wieder seit fast fünfzehn Jahren ihre alte Heimat besuchen. Die erste Station auf ihrer zehntägigen Deutschland-Reise, die sie außerdem u. a. zum SPD-Vorstand nach Hannover, nach Berlin und Hamburg führte, war Frankfurt am Main. Dort wurde sie von ihrem früheren Reichstagskollegen, dem im Vorjahr aus dem skandinavischen Exil zurückgekehrten Spitzengewerkschafter und SPD-Wirtschaftsfachmann Fritz Tarnow und von Willi Richter warmherzig in Empfang genommen, dem damaligen hessischen Gewerkschaftsvorsitzenden und späteren Bundesvorsitzenden des DGB. Ihr Vortrag im Frankfurter Gewerkschaftshaus vor nahezu allen dortigen Gewerkschaftsfunktionären von Belang galt dem höchst bedeutsamen Thema „Amerika und die deutsche Arbeiterbewegung“. Ihr Reisebericht für ihre Vorgesetzten beim amerikanischen Gewerkschaftsbund AFL zeugte davon, wie ungemein beeindruckt Toni Sender vom Aufbauwillen gewesen ist, der ihr in den Kreisen deutscher Gewerkschafter und Sozialdemokraten begegnet war. Zugleich aber konnte sie darin ihre Erschütterung nicht verhehlen ob der großen Verzweiflung der deutschen Bevölkerung insgesamt, welche Resultat der immensen Zerstörungen ihres Landes, der katastrophalen allgemeinen Notlage und der massenhaften psychischen Verelendung dort war. Dies alles sei für den Wiederaufbau einer Demokratie – so ihre lapidare Einschätzung – nicht besonders förderlich.
Nachdem das AFL-Mandat beim Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen 1950 auf den im Jahr zuvor gegründeten Internationalen Bund freier Gewerkschaften übergegangen war, vertrat Toni Sender nunmehr dessen Interessen dort und damit auch die der diesem beigetretenen westdeutschen Gewerkschaften. Für eine imponierende Vielzahl von Problemen hat sie sich auch weiterhin engagiert, so z. B. für die Durchsetzung und strikte Wahrung der Menschenrechte, für die gleiche Bezahlung von Frauen und Männern, für die Einführung der 40-Stunden-Woche und die weitere Reduzierung der Arbeitszeiten, für die Erreichung von Vollbeschäftigung und dergleichen mehr. Nur hierdurch könnten sich, davon war sie felsenfest überzeugt, die demokratischen Errungenschaften im freien Teil der Welt stabilisieren lassen. Das für sie bis zu ihrem keineswegs allein krankheitsbedingten Ausscheiden Ende 1956 bestimmende Thema dieser Jahre war freilich die Bekämpfung von Sklaverei und Zwangsarbeit, welche zwangsläufig von heftigsten politischen Auseinandersetzungen mit dem kommunistischen Weltgewerkschaftsbund begleitet war. Schonungslos prangerte Toni Sender dabei die Praxis in der von ihr mitnichten als sozialistisch, vielmehr als „roter Faschismus“ klassifizierten Sowjetunion und deren Satellitenstaaten an, ein ganzes System von Konzentrations- und Arbeitslagern zu unterhalten, in dem – wie einst bei den Nazis – die Arbeitskraft von Millionen und Abermillionen Menschen rücksichtslos ausgeplündert wurde. Die dann etwas später in Kraft getretenen Konventionen der Vereinten Nationen gegen solche eklatanten Menschenrechtsverstöße waren letztendlich Jahre zuvor von ihr mit vorbereitet worden. Ebenso ist aber von ihr auch der Franco-Faschismus in Spanien nicht zuletzt wegen der dort nach wie vor unterdrückten Gewerkschaften rigoros gegeißelt worden. Und genauso hatte sie sich 1950 zusammen mit Herbert Wehner in New York für die Freilassung der deutschen Kriegsgefangenen eingesetzt.
Bei ihren Nachkriegsbesuchen hierzulande ist sie durchaus nicht überall mit offenen Armen empfangen worden, eine bittere Erfahrung, die sie mit vielen vormaligen Exilanten hat teilen müssen. Gleichwohl haben die meisten ihrer hiesigen Genossinnen und Genossen ihr gegenüber größte Wertschätzung bezeugt, etwa Erich Ollenhauer, Fritz Erler, Fritz Heine und Willy Brandt, von dem sie im Übrigen bei einem Treffen in New York 1959 sehr angetan gewesen ist. Ihr alter Freund Paul Löbe, mit dem sie seit 1946 einen regen brieflichen Gedankenaustausch pflegte, so auch über die sie enorm beunruhigenden neonazistischen Aktivitäten in der frühen Bundesrepublik, sandte ihr damals das Protokoll des Godesberger Parteitages der SPD zu, welcher sie sich – trotz mancher deutlich artikulierten Kritik an deren damaligen politischen Positionierungen – noch immer emotional verbunden fühlte.
So hatte sie der SPD-Ortsverein Wiesbaden-Biebrich bereits zu ihrem 60. Geburtstag wissen lassen, man sei stolz darauf, dass mit ihr „ein Kind unserer Stadt ein berufener Weltvertreter demokratischer Ideale“ geworden sei. Martin Hörner, der Ortsvereinsvorsitzende, hielt seitdem die Verbindung mit ihr bis zu ihrem Tode aufrecht. Noch zu ihrem 75. Geburtstag erreichten sie viele Glückwunschschreiben aus Deutschland, darunter das des vormaligen Widerstandsaktivisten und damaligen Wiesbadener Oberbürgermeisters sowie stellvertretenden Vorsitzenden der hessischen SPD-Landtagsfraktion Georg Buch, dem sie in ihrem Dankschreiben versicherte, ihre „Vergangenheit im gemeinsamen Kampf“ werde immerfort in ihrem „Gedächtnis zurückbleiben“.
Nach langem, schwerem Leiden an Parkinson starb Toni Sender am 26. Juni 1964 in New York an einem Schlaganfall. In den letzten Jahren hatte ihr, die einst in den Reichstagshandbüchern als Dissidentin vermerkt war, u. a. ein Rabbiner zur Seite gestanden. Deshalb wohl wurde sie auch nach orthodox-jüdischem Ritus auf dem Beth Israel Friedhof in Woodbridge, New Jersey beigesetzt. Mehr oder minder umfangreiche Nachrufe brachten z. B. die „New York Times“, drei Frankfurter Tageszeitungen und der „Sozialdemokratische Pressedienst“.
In ihrem Geburtsort Biebrich bzw. in Wiesbaden wurde sie erst aus Anlass ihres 100. Geburtstages durch eine von Margot Brunner, der damaligen Frauenbeauftragten der hessischen Landeshauptstadt, ausgerichtete umfassende Ausstellung dem Vergessen entrissen. Eine weitere, hierdurch angeregte Präsentation des Historischen Museums Frankfurt am Main folgte 1992. Dort wird seit demselben Jahr durch die Stadt ein nach ihr benannter Preis an Frauen vergeben, die sich in besonderer Weise für Gleichberechtigung und gegen geschlechtsspezifische Benachteiligungen und Diskriminierungen verwandt haben. In ihrer Heimatgemeinde wurde 1988 das dortige Seniorenzentrum nach ihr benannt, wo sich seit geraumer Zeit außerdem die Kindertagesstätte Toni-Sender-Haus befindet. Während am Biebricher Geburtshaus dieser leidenschaftlichen Kämpferin gegen Nationalsozialismus und Stalinismus zur Erinnerung an ihren 50. Todestag im Jahr 2014 eine Gedenktafel angebracht wurde, ist in Frankfurt eine Straße nach ihr benannt. Und schließlich hält auch unsere 1961 gegründete Sozialistische Bildungsgemeinschaft Hessen durch ihre Namensgebung die Erinnerung an Toni Sender wach, die zeitlebens auf so vorbildliche Weise für die Grundwerte unserer Partei eingetreten ist, nämlich für Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität und damit für eine wirklich soziale Demokratie.
Dr. Axel Ulrich